Arbeitsprobe mit Richard Siegal zur Soirée Ravel

The work is the dancer

Richard Siegal, Rafael Vedra, Skyler Maxey-Wert, Chiara Scarrone

„Flüchtig lassen sich durch schwebende Nebelschleier hindurch walzertanzende Paare erkennen. Nach und nach lösen sich die Schleier auf. Man erblickt einen riesigen Saal mit zahllosen im Kreise wirbelnden Menschen. Die Szene erhellt sich zunehmend…“

Nein, dies ist nicht die atmosphärische Beschreibung von Studio 1 zu Beginn der Arbeitsprobe zur «Soirée Ravel», sondern es handelt sich um die erklärenden Worte, die Maurice Ravel 1920 zum besseren Verständnis der Musik seinem Auftraggeber Diaghilev mitlieferte. Aber weder Musik noch diese Beschreibung konnten seinerzeit Diaghilev überzeugen und er lehnte La Valse ab. Was dann zu einigen Verstimmungen führte.

Wenn auch nicht mit Nebelschwaden, so füllt sich aber Studio 1 kontinuierlich mit immer mehr Tänzern und Tänzerinnen und vielen interessierten Ballettfreunden, die die letzte Arbeitsprobe dieser Spielzeit nicht verpassen möchten. Der Gastchoreograph Richard Siegal ist inmitten der Tänzer bereits zu erkennen und Edoardo Boëchat , heute nicht am Flügel, hat bereits am Schaltpult Platz genommen.
Nach der herzlichen Begrüßung durch Egon Schawe und einer kurzen Einführung von Julia Schinke, die an dem Abend auch das anschließende Gespräch führen wird, beginnt die Probe ohne Zeitverzögerung.
Richard Siegal erklärt den 14 Tänzer, die um ihn einen lockeren Halbkreis bilden, was er möchte und ein jeder geht auf seinen Platz vor dem Spiegel. Für die Zuschauer ist nicht einmal in Ansätzen erkennbar, worum es in der einzustudierenden Szene geht. Zunächst einmal steht eine Dreier-Tänzer- Kombination zusammen (Orazio, Skyler, Niklas), die sich dann aber in einer fast abrupten Bewegung voneinander löst. Man verbeugt sich voreinander in höfischmanierierter Art und lässt die Bewegungen lässig amüsiert auslaufen oder einfrieren. Erstaunlich, wie variationsreich eine solche Bewegung daherkommen kann! Richard Siegal unterbricht, korrigiert leise und steuert fast unmerklich, aber sehr präzise das Geschehen, wobei er immer wieder Anregungen der Tänzer aufgreift. Plötzlich finden Ako und Lang in Spitzenschuhen zu der Gruppe, man überreicht übertrieben höflich ein Glas, das nonchalant angenommen und wieder zurückgegeben wird… Es wird wiederholt, erst ohne, dann mit Musik, Dreier-, Fünfer- und Siebenergruppen wechseln in schnellem Tempo, und immer wieder wird unterbrochen und eine neue kleine Passage einstudiert.

Chiara Scarrone, Richard Siegal, Rafael Vedra, Mariana Dias, Skyler Maxey-Wert

Unversehens, wie aus dem von Ravel beschriebenen Nebelschwaden im übertragenen Sinne auftauchend, stehen sich vier Paare im Kreis gegenüber, deuten zu den Klängen von La Valse Walzerbewegungen an. Aus dieser Bewegung heraus wieder bildet sich unerwartet eine Reihe, die sich aber ebenfalls sofort wieder auflöst. Das alles geschieht vor den Augen der Zuschauer in einer übergangslosen Schnelligkeit. „You know, it’s super fast“, hörte man auch irgendwann Orazio zu einem anderen Tänzer sagen. Wie wahr! Immer wieder bespricht man sich untereinander, vergewissert sich bei Richard Siegal, zählt bis sechs, nimmt eine neue Position ein. Zum Ende erfolgt ein kurzer Durchlauf von knapp einer Minute. Als die Musik verstummt, bedankt sich Richard Siegal respektvoll bei den Tänzerinnen und Tänzern. Diese verlassen den Raum und man erkennt an ihren Bewegungen, dass sie im Kopfe und mit den Händen die Bewegungsabläufe noch einmal durchgehen. Wie schnell können fast 90 Minuten vorübergehen, wenn man nur zuschaut! Für die Tänzerinnen und Tänzer gibt es einen langanhaltenden Applaus von den Ballettfreunden, die wieder einmal exklusiv das Privileg hatten, an der Entstehung einer neuen Choreographie mit hohem Suchtpotential teilzuhaben, denn als Zuschauer sehnt man sich inzwischen danach, einmal die gesamte Musik zu hören und natürlich die vollständige Choreographie zu sehen.

Richard Siegal und Ensemble

Im nachfolgenden Gespräch wendet sich Richard Siegal zunächst direkt an das Publikum, bedankt sich für das Interesse an seiner Arbeit in fließendem, fast akzentfreiem Deutsch, nur um darauf hinzuweisen, dass das schon das Ende seiner Deutschkünste sei. Er bittet um Verständnis, das Gespräch weiter auf Englisch zu führen.

Richard Siegal und Julia Schinke

Julia Schinke geht in einer ersten Frage auf die Beziehung Richards Siegal zu der Musik von Ravel im Allgemeinen und La Valse im Besonderen ein.
Richard Siegal berichtet, dass er La Valse vorher nicht gekannt habe, obwohl es ja inzwischen zu dem großen klassischen Repertoire gehöre, auch für das Ballett. Immerhin hätten Balanchine und Ashton dazu Choreographien entworfen. Und nun wolle er es versuchen. Es sei ja äußerst interessant, dass Diaghilev das Stück abgelehnt habe mit der Begründung, das sei kein Ballett, sondern nur das «Portrait d’un ballet». Daraufhin habe Ravel sehr beleidigt Diaghilev nie mehr gegrüßt, weshalb letzterer Ravel sogar zum Duell fordern wollte. Da könne man sehen, welchen Stellenwert die Musik früher hatte und wie wichtig man sie nahm.
Da er in der Regel elektronische Musik benutze, auch mit Orchester, gehöre La Valse aber eigentlich nicht zu der Musik, die man bei ihm normalerweise hören könne. Gleichwohl, als er La Valse das erste Mal gehört habe, sei das für ihn eine ungeheure Entdeckung gewesen. Er habe in der Musik sehr viel erkannt und gesehen! Ironie, Karikatur, Satire… Eigentlich sei diese Musik so «over the top», so übertrieben, zu romantisch, dann wieder ironisch, aber das sei bewusst von Ravel so gesetzt. Ravel habe das Extreme gesucht … und das findet sich in La Valse wieder.
Julia fragt nach, ob La Valse für Richard eine narrative Musik sei.
Richard bestätigt, dass dies in gewisser Weise zuträfe. Er lese daraus auch die Kritik an der Vergnügungssucht der Gesellschaft des Fin de Siècle. Eigentlich sollte La Valse ja den Hof in Wien um die Zeit von 1855 darstellen. Aber die Musik persifliere in seinen Augen insgesamt aristokratisches und übertriebenes Verhalten. Da er einige Zeit in Paris gelebt habe, habe er dort die französische Courtoisie kennengelernt, eine vollkommen andere Form der Kommunikation zumindest als die der Amerikaner. Diese Erfahrungen sollten nun auch in seine Choreographie mit einfließen.

Die Soirée Ravel will den 150.Geburtstag von Maurice Ravel ehren. Für diese Soirée werden Bridget Breiner und Richard Siegal vier Uraufführungen zeigen. Bridget Breiner wählte das Klavierkonzert für die linke Hand in D-Dur und Daphnis und Chloé. Richard Siegals Wahl fiel auf Boléro und La Valse,
(Anm.d.R )

In diesem Kontext möchte Julia Schinke wissen, was mit den vier verschiedenen Choreographien zu der Ravel-Musik geschieht, ob diese Choreographien am Ende zusammenkommen.

Richard zeigt sich nachdenklich und führt aus, dass man noch in der Phase der Ungewissheit sei. Das sei ja das Besondere bei der Kreation eines neuen Werks. Man wisse am Anfang nie, wohin es führe. Man habe sozusagen ein Papier, auf das etwas geschrieben würde. Dann falte man das Papier und ein anderer füge etwas hinzu. Man wisse aber nicht was. So fühle sich die Arbeit für diesen Abend an. Bridget und er arbeiteten parallel, nur der Bühnenbildner (Jean-Marc Puissant) halte den roten Faden in der Hand. Er habe seit einigen Jahren festgestellt, also seitdem er choreographiere, dass es verschiedene Phasen bei der Kreation gäbe. Man kreiere, entwerfe und verwerfe, und dann käme der Moment, wo man plötzlich das unbändige Gefühl in sich habe, das Stück in seiner Gesamtheit zu sehen, mit den Augen zu erfassen. Das sei ein nicht zu beschreibendes Gefühl, fast eine Sehnsucht. Das Sehen, das Erkennen mit den Augen sei so wichtig für ihn! Denn Tanz sei eine visuelle Kunstform und der Choreograph ein visueller Künstler. Die Tänzerinnen und Tänzer hätten ihre Körper, um die Gefühle und Emotionen darzustellen. Das sei ein physikalischer Vorgang. Wenn Balletttänzer irgendwann die Chance hätten, das Stück, in dem sie getanzt haben, zu sehen, seien sie oft erstaunt, dass es auf sie ganz anders wirke als auf der Bühne beim Tanzen. Er fügt hinzu, dass man bei diesem
Schaffensprozess viel Geduld brauche, auch mit sich selbst. Er als Choreograph müsse warten bis es soweit sei. „The work is the dancer.“
Und er führt weiter aus: „Heute zum Beispiel hatten wir die erste Probe zu Bolero, wo wir alles zusammengeführt haben. Dieses Gefühl ist wirklich unbeschreiblich! Das ist besser als die Premiere! Der ganze Stress fällt in dem Moment von Dir ab! Die Tänzer sind das Stück und man muss es an den Tänzern erleben! Ein Gefühl kann ich mir nicht vorstellen, aber ich kann es sehen.“
Julia möchte wissen, wie es weiter geht mit den Probenarbeiten in Düsseldorf?
Richard erläutert, dass das Balletthaus sozusagen das Zuhause sei. Wenn man das Zuhause verlasse und auf die Bühne gehe, dann müsse man sich wieder neu finden. Wenn die große Bühne, der Orchestergraben, das Licht, die Kostüme, das Orchester hinzukämen, träte die Choreographie in eine neue Phase. Das sei wieder etwas Eigenes. Auch die Arbeit mit der Live-Musik aus dem Orchestergraben sei anders und könne auch zu Erlebnissen führen, mit denen man nicht gerechnet habe.
“Ich will ein Beispiel geben. Für Bolero gibt es ein Laufband wie am Flughafen, ein richtig großes Laufband, auf dem die Tänzer tanzen. Aber es ist nicht nur sehr groß, sondern auch sehr laut. So laut, dass das Orchester am Anfang von Bolero, der ja sehr verhalten beginnt, sich nicht hören kann, und man im Zuschauerraum auch nichts vom Orchester hört. Dieses Problem hatten wir bei den Proben im Balletthaus natürlich nicht. Also was tun? Raphaël meinte « Art making is problem solving » und hatte eine sehr gute Idee! Irgendwann ist die Musik im Bolero laut genug, dass man das Laufband nicht mehr hört. Und vorher wird ein Komponist elektronisch die Atmosphäre von Bolero aufnehmen und ein elektronisches Stück am Anfang einspielen. Das Orchester setzt dann ein, wenn es so laut ist, dass man die Maschinengeräusche nicht mehr hört. Das nennt man Problem solving!“

Es bleibt Richard Siegal, den Tänzerinnen und Tänzer und allen anderen Beteiligten an der Soirée Ravel zu wünschen, dass bis zur Premiere am 7.Juni in Duisburg nicht mehr Probleme gelöst werden müssen, auch wenn es zum «Art making» gehört.

Die Ballettfreunde dankten mit einem großen Applaus allen Beteiligten des Abends. Es gab Blumen, auch für Raphaël und Bridget als kleines Dankeschön für die erste Spielzeit mit den Ballettfreunden. Anschließend ließ man die Soirée mit einem Kaltgetränk und guten Gesprächen ausklingen. Es war mal wieder ein besonderer Abend und es ist eigentlich schade, dass dies die letzte Arbeitsprobe in dieser Spielzeit war. Aber in der neuen Spielzeit warten wieder neue interessante Arbeitsproben auf die Ballettfreunde. Das ist sicher!

Weitere Informationen und Aufführungstermine unter Oper am Rhein.

Text: Renate Raeune; Fotos: Renata Weber-Zangrandi, Daniel Senzek