„Wie fühlst du dich heute?“ fragt Mthuthuzeli November zu Beginn der Probe den ersten Tänzer in der Runde, die die Tänzerinnen und Tänzer in der Mitte des Studio 1 gebildet haben. Nach der Antwort fragt er weiter. An jede Tänzerin, an jeden Tänzer richtet er die Frage nach der aktuellen Befindlichkeit. Am Ende der Fragerunde sagt er, wie er sich gerade fühlt. Erst dann darf die Probe beginnen.
„Ich frage vor jeder Probe alle TänzerInnen, wie sie sich fühlen. Manchmal bekomme ich nur eine Daumen-hoch oder Daumen-runter Antwort, manchmal aber auch eine längere Erklärung. Ich finde es schön, dass die TänzerInnen mir erlauben, zu erfahren, wie sie sich fühlen. Ich glaube, dass ich weniger Überzeugungsarbeit leisten muss, wenn ich mich ihnen gegenüber so gebe, wie ich bin. Ich glaube, dass es wichtig ist, die Frage nach dem Befinden zu stellen. Selbst wenn du einen schlechten Tag hast, dich aber jemand fragt, wie es dir geht, dann ändert sich deine Art zu denken. Du fühlst dich akzeptiert. Und mir gibt es die Möglichkeit, auf deine Befindlichkeit Rücksicht zu nehmen. Wenn ich weiß, dass es dir nicht gut geht, kann und werde ich das respektieren.“
Mthuthuzeli November ist gerade 30 Jahre jung. Er wird als „shooting star“ der Tanzszene gehandelt, wirkt in der Arbeit mit der Compagnie und im anschließenden Interview mit Dramaturgin Juliane Schunke sehr authentisch und bescheiden.
Die Arbeitsprobe, bei der die Ballettfreunde zuschauen durften, zeigte einen Ausschnitt aus seinem Werk „Invocation“ (zu Deutsch: Anrufung oder Beschwörung), das am 15. März 2025 in der Düsseldorfer Oper im Rahmen des dreiteiligen Ballettabends „Kaleidoskop“ uraufgeführt wird.
Mthuthuzeli November wurde in Südafrika geboren. Angefangen hat er als Kind mit afrikanischen Tänzen und mit Street Dance, dem er auch heute noch sehr verbunden ist. Erst mit 15 Jahren begann er mit klassischem Ballett. Er besuchte eine sog. Performing Arts School, auf der er auch Stepptanz, Schauspiel, Gesang und Hip-Hop gelernt hat. So tanzte er im Musical „West Side Story“, bevor er zum Ballet Black wechselte. Seit 2015 lebt er in London und erschafft eigene Choreografien, die weltweit aufgeführt werden.
„Anfangs waren meine Arbeiten eher vom neoklassischen Ballett beeinflusst. Aber in Groß Britannien merkte ich dann, dass die Stücke nichts Besonderes waren. In der gleichen Art kreierten auch alle anderen. Ich aber wollte anders sein. Je länger und je weiter ich von zuhause, von Südafrika, weg war, desto mehr wünschte ich, nach Afrika zurückzukehren. Ich realisierte, dass meine Heimat mich zu dem gemacht hat, der ich bin, aber dass ich das bislang noch nicht in meinem Tanz ausgedrückt hatte. Meine kreative Perspektive hat sich dann geändert: Ich will Geschichten erzählen, die zeigen, woher ich komme. Ich möchte meine eigene Tanzsprache entwickeln, die den ganzen Körper, afrikanischen Tanz und Street Dance einbezieht.“
Die Probenarbeit ist hart und schweißtreibend. Mthuthuzeli November gibt den schnellen Rhythmus vor. Er ist voll dabei, tanzt die Schritte mit, während er den TänzerInnen Anweisungen zuruft, sie motiviert, sich noch mehr auf den Rhythmus einzulassen, die Bewegungen mit noch mehr Power und Körperlichkeit auszuführen.
Nach einigen Minuten fliegen die Pullover und T-Shirts der TänzerInnen in die Studioecken. Der Schweiß fließt in Strömen. Nur Mthuthuzeli November, mit einem dicken Trainingsanzug bekleidet, zeigt keine Anzeichen von Erschöpfung.
„Ich möchte die Stücke, die ich kreiert habe, auch immer selbst tanzen. Ich bin Tänzer und ich will immer tanzen bis ich schwitze, bis ich meinen Körper nicht mehr spüre. Das befreit mich. Ich vergesse in diesem Moment alles um mich herum.“
Endlich eine Pause. Die Tänzerinnen und Tänzer werfen sich schweratmend auf den Boden. Es wird berichtet, dass bei den ersten Proben mit Mthuthuzeli November der Wasserspender in der Balletthausküche leer getrunken worden ist.
„Der erste Gedanke für das Stück „Invocation“ war die Rückerinnerung an meine Kindheit. Die Familie meines Vaters lebte am East Cape in Südafrika. Ich war noch sehr klein und erlebte in der Hütte, in der die Familie wohnte, eine rituelle Zeremonie. Ich erinnere mich an den Klang der Trommeln und an die Gesänge. Ich spürte die Vibrationen im Raum. Ich war total ergriffen von der Dynamik der Zeremonie. Und ich muss sagen, danach hatte ich den großartigsten Schlaf meines Lebens. Ich wollte immer schon diese Erinnerung in Tanz umsetzen.
Aber es gibt noch eine andere Seite: ich bin ein schwarzer Künstler in Europa und es gibt nicht viele andere Choreographen, die so aussehen wie ich. Ich frage mich: ist es richtig, was ich mache? Ich versuche immer, mein Bestes zu geben und der Welt mitzuteilen, wer ich bin und wo ich herkomme, meine Geschichte, meine Entwicklung zu zeigen. „Invocation“ ist für mich auch die Anrufung meiner Vorfahren, mich zu leiten das Richtige zu tun. Mir zu sagen, ob es richtig ist, dieses Werk jetzt in Deutschland aufzuführen. Können sie mir helfen? Es ist meine Bitte: helft mir.“
Mthuthuzeli November gilt als Allround-Talent. Neben der Choreografie zeichnet er auch für die Musik, die Kostüme und die Bühne verantwortlich. Aber im Gespräch schwächt er seinen Anteil bescheiden ab.
„Es beginnt immer mit einer Idee, wie die Musik klingen soll. Ich spiele außer Schlagzeug kein Instrument und arbeite mit dem klassisch ausgebildeten Musiker Alex Wilson zusammen. Was ich habe, ist die Leidenschaft. Alex und ich sitzen bei mir in der Wohnung und ich singe ihm etwas vor, was er dann notiert. Er spielt es mir vor. Ich korrigiere die Melodie oder den Rhythmus. Er schreibt es wieder auf, spielt es wieder vor. Ich ändere alles und er schreibt alles wieder neu auf. Wir haben schon so lange miteinander gearbeitet, dass ich irgendwann sage: „Ich möchte, dass das Stück weitergeht, bis man sich vollständig in der Musik verliert. See you next week.“ Und er komponiert dann das Stück weiter.
So geht es auch mit dem Entwurf der Kostüme. Ich sage zu Yann Seabra: Es gibt da so ein Gewand, das in der Familie meines Vaters getragen wurde. Es soll spirituell aussehen, aber es soll nicht so aussehen, als ob weiße Menschen sich afrikanisch verkleidet hätten. Wie können wir das schaffen? Yann kommt dann mit eigenen Idee zurück und wir besprechen, was geändert werden soll. So arbeiten wir: ich bringe Ideen ein, die ich mit meinen Mitarbeitern teile und sie kommen mit ihren Entwürfen zurück. Es ist also nicht so, dass ich die Musik, die Kostüme und die Bühne allein gestalte. Das geschieht immer in Kooperation mit anderen.“
Die Bühne stellt das Dach eines afrikanischen Hauses dar.
„Ich wollte das Haus meines Vaters darstellen. Das war eine aus Lehm gebaute Rundhütte. Das Dach war gedeckt mit trockenem Stroh, das von Kuhdung zusammengehalten wurde. Ich habe eine Erinnerung daran: an den Geruch, an die Menschen, die um das Feuer sitzen und gemeinsam singen. Der Gestank hat dich fast verrückt gemacht, aber du warst ganz bei dir selbst und zufrieden.
Zunächst hatte ich die Idee, auf der Bühne eine Wand zu errichten, die dann mit Lehm beworfen wird. Aber es werden an dem Abend noch andere Stücke gezeigt und wir hätten nach meinem Stück den gesamten Bühnenboden reinigen müssen. Die Idee habe ich deshalb verworfen. Jetzt sieht man nur, wie diese Wand ausgesehen hätte.“
Die Ballettfreunde haben an diesem Abend – Lebensalter hin oder her – mitgewippt und mitgeschnippt mit den harten Rhythmen. Allein die enorme Schnelligkeit der Fußarbeit von Mthuthuzeli November zu sehen, war ein Erlebnis, das man leider bei der Aufführung von „Invocation“ nicht sehen wird. Er wird nicht mit auf der Bühne stehen (dürfen). Aber sicher wird er hinter der Bühne jeden Schritt mittanzen.
Wer Mthuthuzeli November bei der Probenarbeit zuschauen will, hat dazu Gelegenheit durch einen 5minütigen Beitrag in der ARD-Mediathek über eine Choreografie, die er für das Badische Staatstheater in Karlsruhe geschaffen hat. Im Netz zu sehen unter: ARD Mediathek Mthuthuzeli November.
Dank an Juliane Schunke, aus deren Gespräch mit Mthuthuzeli November wir in diesem Artikel zitiert haben.
Weitere Informationen und Aufführungstermine unter Oper am Rhein.
Fotos: Daniel Senzek/Oper am Rhein (7), Erich Kutzera (2); Text: Axel Weiss